In Socken betrete ich die Turnhalle Tannegg in Baden. Ein Raum voller Turngeräte empfängt das Publikum und mich. Die Junge Marie führt heute ihr Stück ROSA UND BLANCA auf und ich schaue in lauter gespannte Gesichter. In der Mitte sitzt eine junge Frau, ganz in weiss gekleidet mit einer aufgemalten Fratze. Sie schreit die Zuschauer durch ein Megafon an und befiehlt ihnen, sich hinzusetzen. Man sitzt auf blauen Matten oder Bänken, inmitten des Spielraums. Eine glitzernde Frau tritt auf, von der schnell klar wird, dass sie die Mutter von Rosa und Blanca ist. Sie spricht darüber, wie gut es sich in der Zivilisation leben lässt, dass ihre Töchter einfach sture Teenager wären, die sich mal wieder in etwas verfangen haben. Ich weiss nicht wieso, aber ich habe erwartet, dass sich das Stück auf Mundart abspielen wird. Sie spricht jedoch in fliessendem Bühnenhochdeutsch, was mein klassisches Theaterherz sehr gerne hört.
Als die Zwillingsschwestern Rosa und Blanca auftreten, verändert sich die Stimmung im Raum, denn sie rennen wild umher, springen und turnen auf den Geräten rum. Sie tragen bunte Klamotten, die willkürlich zusammengewürfelt aussehen und sind mit allen möglichen Accessoires geschmückt. Sie reden darüber, was passiert wäre, wenn sie in der Stadt geblieben wären, statt in den Wald auszuwandern. Ach ja, hab’ ich noch gar nicht erwähnt: Rosa und Blanca leben im Wald, weil sie die Ausdünstungen jeglicher Arten ihrer Klassenkameraden nicht mehr ertragen können. Das brutale und gierige Verhalten dieser psychopatischen Wesen treibe sie wortwörtlich in den Selbstmord. Nun leben sie im Wald, fern jeglicher Zivilisation und kümmern sich nicht darum, was ihre Mutter von ihnen will. Sie kümmern sich nicht um die besserwisserischen Vorschläge und auch nicht um die Dokumente des Berufsinformationszentrum, die sie ihnen mitbringt. Sie stricken, nähen und untersuchen Insekten. Und hin und wieder retten sie einen Zwerg, den sie eigentlich gar nicht mögen, vor sich selbst. Mal klemmt er seinen Arm ein, dann verheddert er sich in Lianen und ein drittes Mal fällt er in einen Sumpf. Die beiden mögen den Zwerg eigentlich nicht, da er sie nur anschreit und ihnen allerlei Beleidigungen an den Kopf wirft, doch trotzdem wird er meistens von den Schwestern gerettet.
Irgendwann erwacht ein Bär aus seinem Winterschlaf. Der junge Schauspieler trägt einen durchschimmernden Trainingsanzug mit einem aufgestickten Bärenkopf auf dem Rücken. Die Persönlichkeit des Bären ist nicht genau zu durchschauen, er scheint nett zu sein und doch hinterlistig. Er fragt sich oft, was wäre, wenn er kein Bär wäre: «Wie fühlt sich ein Bär an, wenn man selbst keiner ist?», fragt er ins Publikum. Anfangs noch etwas schüchtern freunden sich Rosa und Blanca schnell mit dem Bären an. Sie spielen, lachen und reden zusammen. Die Freundschaft kippt für die beiden Schwestern aber plötzlich in eine Schwärmerei. Beide himmeln sie den Bären an, und streiten sich bald schon darum, wer von ihnen mehr Aufmerksamkeit von ihm bekommt. Die innige Schwesternbeziehung eskaliert zu einem riesigen Streit. Zuerst wütend, werden die beiden Schwestern aber auch traurig, da sie sich selbst nicht kennen. «Wie tief ist diese Liebe, die zerbricht an dem ersten albernen Verlangen?», fragt Rosa. Eine Auseinandersetzung, die kein gutes Ende nimmt, denn Rosa gewinnt den Streit und trifft sich schlussendlich alleine mit dem Bär, welcher sie jedoch frisst.
Das Ende des Stückes kommt unerwartet und zugleich logisch. Ein Ende, über das sich noch lange nachdenken lässt. Das Stück spielt mit Metaphern des Lebens, verbindet Dinge miteinander, die offensichtlich wirken, und doch nicht darüber nachgedacht wird. Ein Stück, das sich nährt an Gesellschaftskritik und trotzdem witzig und fliessend über die Bühne geht. Eingebunden in Witz und Charme lässt sich Gesellschaftskritik nämlich viel besser anhören. Lust bekommen? Aufgeführt wird noch, jedoch erst im Juni 2020 wieder. Und somit schliesse ich diesen Artikel mit meinem Lieblingssatz von Blanca:
«Es ist nicht die Schuld des Lebens, dass es von jedem falsch gelebt wird.»