
Mitten im Stück sein
Das Konzept ist einfach genial. Das Publikum steht im Raum und kann sich setzen, muss aber nicht. Die Spielorte sind im ganzen Theaterraum verteilt. Im Zuschauerraum, auf der Bühne, oben auf der Estrade und hinter einem Vorhang. Das Publikum bewegt sich um die Spielorte herum. Das dynamische Spiel beginnt unerwartet. Plötzlich sind auffällige Personen im Raum, die das Publikum grüssen. Ich habe einen Moment gebraucht, um zu verstehen, dass dies die Protagonist:innen des Stücks sind.
Sie grüssen vereinzelt Personen im Publikum, bevor sie zueinanderfinden und das Schauspiel beginnt. Die Figuren beziehen das Publikum teilweise mit ein, zum Beispiel wenn sie Kaffee oder Wein ausschenken, danach fragen, was für besondere Gegenstände die Zuschauenden mitgebracht haben oder ob auch sie etwas zum Frühstückstisch beitragen können. Diese Interaktionen werden mit Leichtigkeit eingebaut und machen das Stück persönlicher. Spätestens bei der Aerobic-Szene tanzt das ganze Publikum mit und lacht dabei. Eine kurze, aber schöne Party für alle.
Die Rezeption dieses Stückes verhält sich ganz anders als ein üblicher Theatergang. Es ermöglicht eine andere Theatererfahrung, denn das Publikum ist Teil des Geschehens. Ein Teil der Theaterfamilie. Sie erleben und prägen das Stück mit, sind weniger nur Zuschauer:innen. Dadurch entsteht eine unmittelbare Theatererfahrung, die direkter anspricht und alle Sinne mit-einbezieht. Das Publikum geht bewegt nach Hause.
Sechs individuelle Schicksale
Die sechs Frauenfiguren verhandeln auf witzige Weise das Frausein, hinterfragen dessen Bedeutung und erörtern was anders sein könnte. Die Rollen wirken echt und authentisch. Sie wurden sehr detailliert und persönlich ausgearbeitet. Die junge Blumenverkäuferin beispielsweise, die autistische Züge hat und ganz genau weiss, dass sie morgens durchschnittlich 16.3 Kund:innen im Laden erwartet. Denn ihr Leben ordnet sich in Zahlen: Datum, Tageszeit, genaue Schrittzahl zwischen bestimmten Orten.
Auf dieser detaillierten Ebene sind alle Rollen ausgearbeitet. Sie sind zwischen Zwanzig und Achtzig und verkörpern ganz unterschiedliche Frauen: Beispielsweise die Tussi aus dem Nagelstudio, die Hippiefrau mit Tarotkarten, die helfende Oma, die Rockerbraut mit Spielsucht. Was erst einmal als ein Spiel mit Stereotypen wirkt, ent-puppt sich im Verlauf des Stücks als Individualität. Sie erzählen persönliche Geschichten, die berühren. Ganz freiwillig sitzen diese sechs Frauen nicht in einem Raum, sie wurden eingeladen und bemerkten dann, dass sie eingeschlossen sind. Die erste Panikattacke geht durch den Raum. Verstört rennen die Frauen durch das Publikum.
Begleitet werden sie dabei von Livemusik, was die Szenen gekonnt untermalt. Dramaturgisch bilden sich drei grosse energetische Felder, zum einen die Überhysterie meist verbunden mit Panik, das eigentliche Schauspiel was witzig und ernst ist, sowie performative Einheiten, die beruhigend wirken. Diese energetischen Felder sind ausgewogen zusammengeflochten und komponieren ein herrlich witziges Stück, was spannende Ansätze und Fragen aufwirft. Lassen Sie sich bewegen und gehen Sie hin.