Basel SBB – Zürich Hauptbahnhof. Rushhour. Ich quetsche mich auf einen der letzten freien Sitze, es herrscht lautes Stimmengewirr. Regen klatscht an die Fensterscheiben. Ich bin auf dem Weg nach Zug, um mir das Stück EIN VOLKSFEIND anzusehen, das das Kinder- und Jugendtheater Zug auf die Bühne bringt. Während der Fahrt mache ich mich ein wenig schlau über das Stück. Denn viel mehr als ein alter Mann mit voluminösem Backenpart – Henrik Ibsen – fällt mir dazu nicht ein. Ich finde heraus, dass es ein gesellschaftskritisches Stück über Wahrheit, Freiheit und Mehrheit ist. Grosse Themen also, denen sich das Kinder- und Jugendtheater Zug annimmt. Gespannt auf ihre Umsetzung lehne ich mich im Sitz zurück und döse ein, der gigantische Backenbart Ibsens immer noch vor Augen.
Nach eineinhalb Stunden Fahrt sitze ich endlich im dritten Untergeschoss des Einkaufszentrums Metalli und warte bis die Inszenierung beginnt. Im Theatersaal hängen Fotografien von vergangenen Stücken mit Aufschriften wie «Theater gefährdet Ihr Seelenfrieden» oder «Theater gefährdet Ihre Moral». Man merkt, dass das ein Ort ist, an dem mit viel Herzblut das Theatermachen an Kinder und Jugendliche vermittelt wird, und das seit über 20 Jahren.
Vom Volksfreund zum Volksfeind
Im Zentrum von Ibsens naturalistischem Schauspiel steht ein Kurbad. Schnell wird klar, welche Bedeutung es für die norwegische Küstenstadt hat. Es zieht Touristen an, die sich vom angeblich heilsamen Wasser Genesung und Erholung erhoffen und ist damit eine wichtige Einnahmequelle. Es ist der «Herzschlag der Stadt», wie es heisst und die Bürger*innen identifizieren sich mit ihm. Das wird mit den Kostümen und dem Bühnenbild verdeutlicht. So sind zum Beispiel der Arztkittel des Dr. Stockmann oder der Anzug des Stadtpräsidenten aus flauschigem Badmantelstoff gefertigt. Das Bühnenbild besteht aus weissen Kachelwänden und aufblasbaren Plastiksesseln.
Deshalb schlägt die Entdeckung des Kurarztes Stockmann wie eine Bombe ein. Er findet heraus, dass das Heilwasser vergiftet ist. Weil er ein Mensch ist, der sich «bei den Menschen verdient machen» möchte und die Gesundheit anderer nicht zu seinen Gunsten schädigen will, möchte er mit dieser Entdeckung an die Öffentlichkeit gehen. Doch keiner ist zu den aufwendigen Umbauten des Kurbades bereit. Ein intrigantes Machtspiel beginnt, in dem der Stadtpräsident, die Unternehmerin Agatha Kiil und die Skandalpresse ihre Finger im Spiel haben. Ich fühle mich an Politthriller im Fernsehen erinnert. Am Ende steht der Arzt, der einst für seine Arbeit respektiert wurde, zum Volksfeind diffamiert am Rand der Gesellschaft.
Populisten und Lobbyisten
Dieser Spannungsbogen vom Volksfreund zum Volksfeind gelingt dem Kinder- und Jugendtheater Zug nicht auf Anhieb, da die Szenen und Wortwechsel im ersten Teil etwas repetitiv wirken. Doch im zweiten Teil der Aufführung nimmt die Handlung an Fahrt auf und die Schauspieler*innen gehen in ihren Rollen auf. Insbesondere Benjamin Koch als Kurarzt Stockmann überzeugt mit lebhafter Mimik und gekonntem Bühnendeutsch. Die Wendung zu mehr Dynamik gelingt, indem die Volksversammlung des 4. Aktes zur Talkshow wird. Die Zuschauer*innen werden somit zum Publikum im Fernsehstudio. In feurigen Reden legen der Arzt, der Stadtpräsident und der Besitzer des Tagblatts ihre Standpunkte dar. Das Streitgespräch wird zu viel mehr als nur einem Gefecht über das Kurbad, es entwickelt sich zu einer Grundsatzdiskussion über Wahrheit und Mehrheit.
Aus dem Publikum ertönen als Reaktion auf die Reden Applaus oder Buh-Rufe. Die Souffleuse in der ersten Reihe nimmt plötzlich die Rolle einer vehementen Gegnerin des Arztes an und nennt ihn einen «Volksfeind». Ich werde somit selbst Teil des Mobs aus Wutbürgern, denen der Arzt zum Feindbild wird – ein beklemmendes Gefühl.
Während der Talkshow, die für mich das Highlight des Abends bildet, wird die Aktualität des Stückes deutlich. Populismus und Stimmungsmache machen den integren Arzt Stockmann in den Augen der Gesellschaft zum «Volksfeind». Ein Wort, das auch heute wieder in Kreisen von Rechtsextremen und der AfD Verwendung findet.
Dem Kinder- und Jugendtheater gelingt es auch, auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen, der heute von Aktualität ist. Der Kurarzt spricht sich nämlich in der Talkshow gegen Lobbyisten im Vorsitz und in der Politik aus. Ein Thema, das auch für die Schweizer Politik gilt, wenn man bedenkt, wie viele Lobbyisten im Parlament sitzen und Interessenspolitik betreiben.
Dieser Aktualitätsbezug eröffnet eine neue Perspektive auf das Stück Ibsens, wirkt dabei aber nicht erzwungen. Somit liefert das Kinder- und Jugendtheater Zug ein Beispiel dafür, dass Klassiker uns auch viel über unsere Zeit sagen können.
Die letzten Worte, die Dr. Stockmann verlassen und im Dunkeln zum Publikum gewendet spricht, hallen bei der Fahrt zurück nach Basel noch eine Weile in mir nach: «Am stärksten ist der, der ganz alleine dasteht.»