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Theaterkritik be like: Welches Zitat aus diesem Stück ist noch frei und können wir für den Titel verwenden?
Ich glaube keins. Chinchilla Arschloch, waswas, das Tourette-Theater-Erlebnis von Rimini Protokoll, ist zurecht eingeschlagen wie eine Bombe, als es 2019 im Schauspiel Frankfurt uraufgeführt wurde. Es war Gegenstand von dutzenden Texten a la inklusives Theater – endlich! Jetzt, auf dem ersten Gastspiel ausserhalb Deutschlands, war es auf dem Theaterfestival Basel zu sehen und ich versuch mich daran, das Gesehene in Worte zu fassen, obwohl eigentlich alles dazu bereits gesagt ist.
Zunächst einmal: Tourette ist eine Nervenerkrankung, die die Betroffenen dazu zwingt, zwar unterdrückbare, aber unkontrollierbare Bewegungen, Laute oder Beschimpfungen von sich zu geben – Tics. Diese Tics können von ständigem Zucken und Grimassenschneiden bis zu unflätigen und gleichermassen lustigen Schimpfwörtern variieren.
Dadurch werden die Betroffenen in der Gesellschaft stigmatisiert, als Aussenseiter abgestempelt und beschränkt in ihrer Teilnahme am öffentlichen Leben. Das Gegenteil davon wollte Helgard Haug, Teil des Kollektivs Rimini Protokoll. Sie hat Christian Hempel, Benjamin Jürgens und Bijan Kaffenberger auf die Bühne geholt, damit sie ihre Geschichten erzählen. Alle drei leben mit Tourette und sind in den unterschiedlichsten Positionen: Hempel ist Grafik-Designer, Jürgens Altenpfleger und Kaffenberger Landtagsabgeordneter der SPD in Hessen. Begleitet werden sie von Barbara Morgenstern, die Musikerin ist und das Stück mit Elektronik-Sounds bis Deutschpop mehr als nur anreichert. Die Bühne ist aufgebaut als grosse weisse Insel mit mehreren roten Sitzgelegenheiten, Instrumenten und Screens. Es erinnert ein wenig an ein Stefan Raab-Studio, was auch seine Begründung im Stück hat.

Erster Vorwurf, den man an dieses Stück in 28 Szenen haben könnte: Voyeurismus. Drei Menschen mit einer Erkrankung dürfen mal spielen und wir schauen zu. Das trifft hier nicht im Geringsten zu. Es kommt aus ohne Betroffenheitsverbiegung oder Lehrstückcharakter. Stattdessen haben die drei und wir im Publikum mächtig Spass, es wird Pizza bestellt und gegessen (aber nur für die erste Reihe, grmpf) und «Wer zuerst tict, verliert» (das an Schlag den Raab erinnert und welches Hempel mit 3:0 gewinnt) gespielt.
Jede Aufführung ist eine Uraufführung. Die Unvorhersehbarkeit der Tics lässt die Regeln jeden Abend aufs Neue verhandeln, ein Grossteil der englischen Übertiteln werden erst im Moment des Sprechens geschrieben. Neben Wörtern, die ich als Jugendwort 2021 vorschlagen würde (zum Beispiel Haschischbraut), geht es um den geistigen Dünnpfiff, den die AfD im Landtag und sonst verbreitet und den Kaffenberger als «Parlamentstourette» bezeichnet. Eine der Bedingungen, die Hempel für sein Mitmachen nennt, ist, dass er einfach nur dasitzen will und das Publikum beobachten will. Fünf Minuten lang kreisen also Scheinwerfer und bleiben dort haften, wo Hempel stoppt.
Natürlich, clevere Beobachter*innen schliessen daraus, dass sich das Spiel also umkehrt und sich das Publikum in seinem Voyeurismus beobachten kann. Das ist sicher irgendwie richtig, wurde aber schon ganz oft gesagt und ich will damit ehrlich gesagt nicht aufhören. Viel lieber möchte ich sagen, dass es mir viel Spass gemacht hat und ich mir wünsche, dass das der Standard ist, an dem sich Theater messen sollte: Lustig, schnell, ehrlich, tiefgründig und vor allem: Echte und reale Erlebnisse.

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