Liebe junge Theaterschaffende
Ich tue mal so, als wäre jetzt keine Krise. Als würden jetzt nicht alle Theaterschaffenden auf der einen Seite in gigantischen Erfindungsdruck und auf der anderen Seite in Existenznöte kommen. Als würden jetzt nicht alle Theater digitale Strategien entwickeln und Quarantänegesänge hochladen. Als hätte es Corona nie gegeben und das Theater das Internet nie entdeckt.
Wir sollten das Internet entdecken.
Seit ich denken kann, ist das Internet ein fester Bestandteil meines Lebens. Ich bin über WhatsApp, Telegram und Skype ständig verbunden mit allen Menschen, die mir wichtig sind – und einige von ihnen habe ich nie analog gesehen; ich lese, recherchiere, zocke und konsumiere digital. Überall, wo ich hingehe, begleitet mich mein Smartphone, verbindet mich mit dem Internet und lässt mich teilhaben an unserer digitalen Öffentlichkeit.
Seit ich denken kann, ist auch das Theater ein fester Bestandteil meines Lebens. Im Theater habe ich gelernt, dass ich nicht hinnehmen muss, dass die Welt ist, wie sie ist – dass ich sie mit künstlerischen Mitteln verändern kann. Im Theaterjugendclub haben wir unsere Stimme gefunden, sind auf die Straße gegangen, haben unseren Stadtraum – unsere Öffentlichkeit – verändert, waren laut, mutig und schamlos. Ich habe gelernt, dass das Theater ein Mitgestalter des öffentlichen Raumes ist.
Warum sollte es also kein künstlerischer Mitgestalter des digitalen öffentlichen Raumes sein? Das Internet ist die wichtigste Bibliothek der Gegenwart, in der Wirklichkeit nicht mehr nur beschrieben und konserviert wird, sondern selbst erschaffen. Dabei stillt es die tiefe Sehnsucht des Menschen nach Verknüpfung und definiert Dinge wie Nähe und Intimität, Existenz, Realität und Fiktion völlig neu. Was ist theatraler als das?
Theater im Internet kann jede Form annehmen – und muss dabei nicht einmal wissen, dass es Theater ist.
Wie herzerwärmend ist es, sich ewig durch die Kommentarspalte von Aphex Twins Youtube-Video zu «Rhubarb» zu bewegen? Wie beeindruckend ist die tumblr «Romeo und Julia» Inszenierung von Manuel Braun? Wie oft kann man das eigene Herz brechen beim 10-Sekunden-Spiel «Queers in Love at the End of the World» von anna anthropy? (Am Rand: Danke an Sean Keller, der immer wieder die schönsten
Perlen im Internet findet.)
Lasst uns Theater im Internet machen! Geht in digitale Räume! Gestaltet sie! Erweitert sie! Verändert sie! Geht auf den Facebook-Account des Innenministeriums und inszeniert dort eure Gesellschaftsutopien in Kommentarspalten! Geht auf Fortnite und spielt mit euren Charakteren Theater für alle, die gerade zufällig auf dem selben Server sind! Geht auf Instagram und zeigt euch ausnahmsweise mal hässlich! Und wenn ihr euch das nicht alleine traut, macht es mit eurer Theatergruppe zusammen! Ihr werdet es besser können als all die Theater, die es jetzt während der Pandemie versuchen.
Caspar Weimann, *1993 in Magdeburg, dort aktives Mitglied des Theaterjugendclubs, Schauspielstudium an der hmt Rostock, Schauspielcoach bei der Bühne für Menschenrechte, Leitung zahlreicher theaterpädagogischer Projekte, aktives Mitglied des «local service» und zahlreiche Lehraufträge für Schauspiel an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg und der Hochschule für Musik und Theater Rostock. Mitgründer des Spoken Jazz Ensembles «Bakkhos Puns» und des ersten Internettheaters onlinetheater.live.
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