«Mir müend über Sex rede!» So beginnt auf Schweizerdeutsch das verheissungsvolle Stück «Frühlings Erwachen». Notabene durchgestrichen. Dies kann zu Irritationen führen und wirft die Frage auf, ob das Stück tatsächlich «gecanceled» ist, was es in gewisser Weise auch war.
Wie man in der 7-minütigen Einführung erfahren kann, hat das Stück tatsächlich nur noch herzlich wenig mit Wedekinds Original zu tun. Die schwere Kost des tödlich verlaufenden Schwangerschaftsabbruchs, der Homosexualität und des Suizids werden in ihrer ursprünglichen Heftigkeit ausgespart. Dafür bringen die jungen Laiendarsteller:innen frischen Wind in die ernsten Thematiken, die zu weiten Teilen nur noch als Inspiration aufgegriffen wurden. Die Verhandlung der Grenze von Konsens und Übergriffigkeit ist aber aktueller denn je.

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© Zoe-Aubry

Balance-Akt hin zu einem (unmöglichen) Konsens

Die ganzen 90 Minuten spielen sich auf einer weiss-leuchtenden Treppe ab. Auf ihr wird fleissig auf- und abgerannt. Voller Körpereinsatz eben – trotz oder gerade zu Zeiten von Corona. Um sich körperlich auf der Bühne nicht zu nahe kommen zu müssen, bietet die Riesen-Treppe genug Abstand und Ausweichmöglichkeiten. Ursprünglich vom ersten Lockdown überrascht, liessen Suna Gürler und Lucien Haug sich nicht in die Knie zwingen. Von drei Profischauspieler:innen ist aufgrund der damaligen Distanzregeln nur noch der Matthias Neukirch geblieben, der sich jedoch herrlich amüsant auf die sechs Jugendlichen (gerecht aufgeteilt in drei Frauen und drei Männer) einlässt und als eine Art Moderator und Mentor durch das Stück führt.
In gekonnter Übertriebenheit sprayen sich die sieben Darsteller:innen kontinuierlich mit Desinfektionsmittel ein und debattieren über Themen der Aufklärung. Dabei interessiert sie insbesondere, wie aufgeklärt wir heutzutage tatsächlich sind – oder eben nicht sind. In Schulbüchern stünde von 197 Seiten nur auf drei Seiten etwas über die Lust am Sex, der Rest ist gefüllt mit Panikmache vor ungewollten Schwangerschaften und unzähligen Geschlechtskrankheiten. So sorgen beispielsweise Ailyn und Moritz’ Erzählung aus der Apotheke für viele Lacher, da sie sich die Pille danach holen wollten, ohne wirklichen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Um wirklichen Geschlechtsverkehr handelt dieses Stück aber auch. Beispielsweise erörtert es die Frage, weswegen nur der penetrative Akt als Geschlechtsverkehr anerkannt wird, andere aber nicht. Neben dieser Frage werden unzählige weitere Fragen gewieft unter die Lupe genommen und geprüft.

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© Zoe-Aubry

«Die Rolle seines Lebens» – Matthias Neukirch als tanzende Vulva

Für die Überraschung des Abends hat Matthias Neukirch mit seinem Tanz im riesig-behaarten Vulva-Kostüm gesorgt – der Rolle seines Lebens, wie er ironisch anfügt. Damit soll erklärt werden, dass die Vulva das Äquivalent zum Penis sei und nicht die Vagina. Zusätzlich wird noch mit einem plastischen Modell einer Vulva gespielt, das auf der Bühne immer wieder auseinanderfällt. Diverse Porno-Seiten werden auf einem Bildschirm eingeblendet, allerdings wird zu wenig darauf eingegangen und das Potenzial etwas verspielt. Ein klarer Verweis ist, dass Wedekinds Stück ebenfalls lange Zeit als Pornographie galt und in absurden Fällen noch gilt. Heute ist sie die obligatorische Schullektüre schlechthin.
Der grösste Teil der Inszenierung wurde während den Proben improvisiert und spielt genau damit, indem die Zuschauer:innen während des Stückes darüber in Kenntnis gesetzt werden. Dinge, die Charakteren auf der Bühne als unangenehm erscheinen, werden so verpackt, als wäre alles nur eine reine Improvisation. Ein cleverer Schachzug. Weiter geht es mit der Idee eines Wettbewerbs zum «Ja-Sagen», dem eigentlichen Motor dieses Stückes. Bis zu der Premiere zu allem und jedem «Ja» zu sagen, darauf sollten sich die sechs Jugendlichen auf Wunsch ihres Mentors einlassen. Einige haben es getan. Jasmin Gloors darstellung ging besonders unter die Haut. Sie erzählt ihrer geliebten Grossmutter – entgegen den Warnungen ihres Vaters – von ihrer Freundin und erhält als einzige Reaktion ein: «Öffne bitte das Fenster, es ist stickig». Dabei stehen die beiden Figuren im Freien. So wie in dieser Szene, geht es in dieser Inszenierung immer wieder ums Versagen – wie es die Jugendlichen benennen. Um Asexualität, Gleichgeschlechtlichkeit und einen heimlichen One-Night-Stand mit einer Lehrerin.
Die Darsteller:innen geben alles, rennen die Treppenstufen hoch und runter, Essen und Trinken als ob die Zuschauer:innen an einer ihrer Proben wären und diese Energie vermittelt das Stück. Der Clou dieser Inszenierung ist, dass eine ursprünglich schwere Kost mit der nötigen Distanz und der richtigen Dosis Humor bestreut wird, um nicht in der Tragik des Originals unterzugehen. Manchmal hätte ein bisschen Ernst allerdings gutgetan, denn von Wedekinds Tragik bleibt kaum noch etwas übrig. Sie wurde sozusagen demontiert. Dennoch oder gerade deswegen ist diese Adaption ein absolutes Muss, dass mindestens im Rahmen des Schulunterrichts besucht werden sollte.
Nach 90 Minuten endet diese Inszenierung so abrupt wie sie begonnen hat, nämlich mit: «Äääh…». In Bezug auf die Länge des Stückes ist ein Ende keine Überraschung. Allerdings ist die Abruptheit mit der es eintrifft etwas schade, denn Matthias Neukirch hatte kurz davor mit der «Befindlichkeitsrunde» im Figurenkreis beginnen wollen, doch das Wort wurde ihm von zwei Darsteller:innen abgeschnitten, die schon mit dem Abräumen beginnen wollten. Ein Stück im Stück. Der Vorhang aus Stahl ist schon fast ganz heruntergelassen. Das Ende ist ein verzweifelter Versuch von Matthias Neukirch, seine Gruppe weiter zum Reden zu bewegen und einen gemeinsamen Konsens zu finden. Es kommt anders, der Vorhang schliesst und das Stück ist aus.

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Isabel Sulger Büel

Tanja Hoppler

Christina Gabriela Galli
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